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Tracken oder nicht tracken: Welchen Einfluss hat das Kalorienzählen auf unsere mentale Gesundheit (& unsere Beziehung zum Essen)?

Tracking & Essstörungen: Welchen Einfluss hat das Kalorienzählen auf unsere mentale Gesundheit (& unsere Beziehung zum Essen)?

Der vielleicht am häufigsten gegebene Ratschlag für übergewichtige Individuen, die erfolgreich abnehmen wollen bzw. aktive Freizeitsportler, die ihre Körperkomposition bewusst und gezielt verbessern möchten, lautet wie folgt: Mache es dir zur Gewohnheit, deine tägliche Kalorienzufuhr zu dokumentieren (11)(12)(13).

Diese Gewohnheit, die man als Kalorienzählen (oder Neudeutsch auch als „Tracking“) bezeichnet, soll dabei helfen, die Aufmerksamkeit auf die Energiemenge zu lenken, die man durch Essen und Trinken aufnimmt, so dass diese mit bestimmten Zielen (z.B. ein Kaloriendefizit zum Abnehmen oder seltener auch einem Kalorienüberschuss zum Masse- und Muskelaufbau) in Einklang gebracht werden kann. Alternativ können wir durch diese Praktik auch beobachten, wie sich unser Ernährungsverhalten auf unser Körpergewicht auswirkt (14).

Historisch betrachtet beinhaltete das „klassische Kalorienzählen“ das Aufschreiben der täglichen Ess- und Trinkmenge in sogenannten Ernährungstagebüchern (ja, tatsächlich noch auf Papier), was in den Augen vieler von uns als mühsam und kräftezehrend empfunden wurde. Inzwischen ist das Tracking der eigenen Ernährung – Dank Internet, Smartphones und Apps, wie z.B. MyFitnessPal – zum Kinderspiel geworden.

Kalorienzählen & Essstörungen

Doch mit der steigenden Verfügbarkeit und Popularität des Kalorienzählens wächst auch die Sorge über die potenziellen Folgen, die eine solche Selbstkontrolle der Ernährung mit sich bringt (z.B. hinsichtlich der mentalen Gesundheit und der Beziehung zum Essen). Konkret steht die Vermutung im Raume, dass die gesteigerte Aufmerksamkeit, die dem Essen, der Zahl auf der Waage und der Veränderung des Körpergewichts im Zuge der Nahrungsaufnahme zuteilwird, das Risiko für Essstörungen erhöhen könnte (4)(5)(16).

Essstörungen, die mit erheblichen gesundheitlichen Komplikationen, anderen psychiatrischen Störungen sowie Todesfolgen und Suiziden in Verbindung stehen (17)(18)(19), werden heutzutage als großes Problem in der öffentlichen Gesundheit wahrgenommen. Auffallend ist, dass die Prävalenz von Essstörungen innerhalb der letzten beiden Jahrzehnte gestiegen ist (20), wobei vergangene Studien eine starke Verbindung zwischen einer Selbstkontrolle der Ernährung und einem erhöhten Risiko von Essstörungen – insbesondere unter Frauen (22)(23) - festgestellt haben (17)(19)(21).

Entwicklung der Punktprävalenzdaten gem. Veröffentlichungsdatum der Artikel mit genauer ED-Diagnose und gewichteten Mittelwerten. n = 25 (10, 12-14, 18, 38-57); gewichtete Mittelwerte sind durch einen schwarzen Balken dargestellt. ED = Essstörung. (Bildquelle: Galmiche et al., 2019)

Entwicklung der Punktprävalenz der verschiedenen Arten von Essstörungen über den Zeitraum 1982-2002, angepasst von Nakai et al. (2014). AN = Anorexia nervosa; BED = Binge-Eating-Störung; BN = Bulimia nervosa; ED = Essstörung; EDNOS = Essstörungen nicht anderweitig spezifiziert. (Bildquelle: Galmiche et al., 2019)

Entwicklung der Punktprävalenz der verschiedenen Arten von Essstörungen über den Zeitraum 1982-2002, angepasst von Nakai et al. (2014). AN = Anorexia nervosa; BED = Binge-Eating-Störung; BN = Bulimia nervosa; ED = Essstörung; EDNOS = Essstörungen nicht anderweitig spezifiziert. (Bildquelle: Galmiche et al., 2019)

So gaben beispielsweise in einer Untersuchung von Levinson et al. (2017) 75% der weiblichen Probanden (n=105, College-Studentinnen), die sich wegen einer Essstörung in Behandlung begaben, an, dass sie die App MyFitnessPal zum Kalorienzählen nutzen (5). Ein Großteil dieser Frauen (73%) vertrat die Ansicht, dass die Nutzung der App zur Entwicklung ihrer Essstörung beitragen hat.

Auf der anderen Seite berichteten Jebeile et al. (2019) in ihrer Meta-Analyse, welche übergewichtige Jungen und Mädchen als Stichprobe berücksichtigte, über einen Rückgang von Essstörungen infolge einer Teilnahme an einem beaufsichtigten Programm zum Gewichtsmanagement, bei dem eine ernährungsbedinge Selbstkontrolle als gängige Maßnahme empfohlen wurde (24). Ein solcher Rückgang könnte jedoch auch auf andere protektive Aspekte zurückgeführt werden, die ein solches Programm typischerweise beinhaltet – etwa eine Betreuung durch Fachpersonal zur Unterstützung der psychischen Gesundheit und soziale Unterstützung (15)(25)(26).

Nicht jeder, der seine Kalorien trackt, ist essgestört

Zweifelsohne erscheint es schwierig, wenn es darum geht eine Trennlinie zwischen einer gesunden und einer ungesunden Selbstkontrolle der Ernährung, wie z.B. dem Tracking der Kalorienzufuhr, zu ziehen. Es ist zum Beispiel nicht unüblich, dass sich einzelne Symptome einer Essstörung (sowie andere subklinische Anzeichen einer solchen) im Ernährungsverhalten von gesundheitsinteressierten und trainierenden Bevölkerungsgruppen - auch ohne eine psychologische Symptomatik, die pathologischer Natur ist – manifestieren (2) (jeder, der sich schon einmal mit einem Wettkampf-Bodybuilder über dessen Ernährung in der Vorbereitung unterhalten oder selbst einmal eine solche durchgemacht hat, wird vermutlich wissen, worauf ich hinaus möchte).

Das Problem: Unter einer Zuhilfenahme der klassische Definition einer Essstörung qualifiziert so gut wie jede Maßnahme zur bewussten Beeinflussung der Körperkomposition wie ein gestörtes Essverhalten (2).

Individuen, die unter Essstörungen leiden, scheinen dazu zu neigen ihre tägliche Kalorienzufuhr zu tracken (4)(5), aber das bedeutet nicht im Umkehrschluss, dass jeder, der Kalorien zählt, unter einer Essstörung im klinischen Sinne leidet. Wir können aktuell nicht mit Gewissheit sagen, ob das Tracking zur Entwicklung einer Essstörung beiträgt oder ob sich Individuen, die eine Essstörung haben, zum Tracking hingezogen führen. Fraglich bleibt auch, ob bestimmte Personen anfälliger sind, als andere, eine Essstörung zu entwickeln, wenn sie Kalorienzählen (oder damit beginnen) (2) - aus diesem Grund gilt es wachsam zu bleiben, um zu vermeiden, dass wir uns selbst (und anderen) Schaden zufügen, wenn wir eine klare Empfehlung zum Tracking der Kalorien- und Makronährstoffzufuhr aussprechen.

Nachdem all das gesagt wurde, ist es an der Zeit, dass wir uns näher mit einer kürzlich veröffentlichten Arbeit auseinandersetzen, in der man sich ein Forscherteam mit der Frage auseinandergesetzt hat, inwiefern das Tracking der Kalorienzufuhr mit einer App, wie z.B. MyFitnessPal, in gesunden Individuen zu einer Verschlechterung der mentalen Gesundheit, des Ernährungsverhaltens und der Beziehung zum Essen beiträgt. (...)


Dieser Artikel erschien in der 06/2022 Ausgabe des Metal Health Rx Magazins.

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Bildquelle Titelbild: fotolia / yuriygolub


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