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Süchtig nach Essen: Wie uns das Konzept der „Esssucht“ dabei helfen kann Übergewicht & Fettleibigkeit besser zu verstehen

Süchtig nach Essen: Wie uns das Konzept der „Esssucht“ dabei helfen kann Übergewicht & Fettleibigkeit besser zu verstehen

Als lebende Organismen sind wir darauf angewiesen, dass wir unseren Energie-, Makro- und Mikronährstoffbedarf über unsere tägliche Ernährung decken, damit wir überleben.

Das Essen ist für viele von uns jedoch weitaus mehr, als die simple Befriedigung eines rein physiologischen Bedürfnisses – wir essen, weil wir Spaß daran haben. Wir essen, weil es uns schmeckt. Und weil es uns eine gute Gelegenheit gibt, um mit anderen Menschen zusammenkommen und dadurch unsere soziale (und ggf. auch berufliche) Beziehung zueinander bei einer leckeren Mahlzeit zu stärken und zu erneuern (14).

Etwas Gutes zu essen, ist zweifelsohne eine Win-Win Situation: Zum einen führen wir unserem Körper wertvolle Energie und essenzielle Nährstoffe zu, die er dringend benötigt, um unseren Stoffwechsel am Laufen zu halten sowie wichtige Reparatur- und Umbauarbeiten („Adaption“) durchzuführen. Zum anderen können wir uns an kulinarischen Gaumenfreuden und sozialer Interaktion erfreuen, die unser Wohlbefinden und unsere Zufriedenheit steigern.

In einer perfekten Welt würde sich jeder Mensch bedarfsgerecht ernähren, d.h. so viel essen, wie er im Tagesverlauf – oder langfristig eben auch Wochen- und Monatsvelauf) – verbraucht. Das Problem hierbei ist jedoch, dass wir nicht in einer solchen makellosen Welt leben. Die Entwicklung der letzten Jahre und Jahrzehnte hat uns nämlich gezeigt, dass wir ein dickes Problem an der Backe haben, welches langsam (aber stetig) in den Fokus unserer Gesellschaft rückt: Eine zunehmende Epidemie des Übergewichts und der Fettleibigkeit (13).

Diese steigende Leibesfülle der westlichen Zivilisation ist im Wesentlichen das Resultat eine Veränderung unserer Bewegungs- und Ernährungsgewohnheiten (12)(13)(15) und der Umwelt, in der wir heutzutage leben (11), die zu einem Ungleichgewicht zwischen Energiezufuhr und Energieverbrauch beiträgt. Wir essen also im Schnitt mehr, als wir wieder verbrauchen – was dazu führt, dass überschüssige Energie (Kalorien) vermehrt in Form von Körperfett für schlechte Zeiten eingelagert wird, die für die meisten von uns jedoch nie kommen werden, weil wir hierzulande in einer Überflussgesellschaft leben, in der eigentlich niemand hungrig zu Bett gehen muss.

In seinem Beitrag zur intuitiven Ernährung hat Christian Kirchhoff bereits dargelegt, warum sich viele Menschen nicht mehr blindlinks auf die Signale des Körpers verlassen können, wenn es darum geht Übergewicht zu vermeiden. Abseits der Tatsache, dass es heutzutage unglaublich schwer ist, sich nicht durch entsprechende Werbung, die einem zum Essen animieren soll, beeinflussen zu lassen, sehen wir uns auch mit einem veränderten Ernährungsangebot konfrontiert (industrielle Nahrung & Junk Food), welches vor allem durch eine hohe Kaloriendichte glänzt und so konzipiert ist, dass es uns schwerfällt mit dem Essen aufzuhören (17)(18).

Doch wie ist das eigentlich, wenn man ganz genau weiß, dass ein bestimmtes Verhalten auf Dauer nicht gesund für einen ist, man damit aber partout nicht aufhören kann…? Irgendwoher kennen wir das doch, oder?

  • Raucher greifen aus unzähligen Gründen zum Glimmstängel. Zigaretten enthalten jedoch auch Nikotin, von dem wir wissen, dass es süchtig machen kann (19).
  • Alkoholiker gehen soweit, dass sie ihre physiologischen Bedürfnisse vernachlässigen, nur um ihr Verlangen nach Bier, Schnaps & Co. zu stillen. Wir reden in diesem Zusammenhang von einer Alkoholsucht (20).
  • Menschen, die zu Kokain und Heroin greifen, wissen in der Regel, dass der Abusus dieser Subtanzen ihrer Gesundheit schadet und sie sogar das Leben kosten kann. Nichtdestotrotz fällt es ihnen schwer, die Sucht, die aus diesen Substanzen heraus resultiert, zu durchbrechen.

In einem solchen Kontext sprechen wir suchterzeugenden Drogen, die jedoch nicht zwangsweise pharmakologischer Natur sein müssen. Hier kommt einem vermutlich am ehesten so etwas wie die Spielsucht oder Kaufsicht in den Sinn. Kann man also bei Menschen, die große Mengen an Gewicht (Körperfett) zulegen, weil sie – nach eigenen Angaben nach – nicht aufhören können zu essen, von einer Esssucht sprechen?

Der Begriff der „Esssucht“ ist in der Wissenschaft umstritten und es gibt eine anhaltende Debatte darüber, inwiefern unsere (hochverarbeiteten) Lebensmittel als sucherzeugend eingestuft werden können, um die Epidemie des Übergewichts zu erklären (16).

Der vorgeschlagene Kreislauf der "Esssucht". Die initiale Anfälligkeit für den übermäßigen Konsum von stark verarbeiteten (schmackhaften) Lebensmitteln ist durch eine erhöhte Impulsivität und Belohnungssensibilität, sowie eine verringerte Fähigkeit zur Hemmungskontrolle gekennzeichnet. Infolge des übermäßigen Konsums kommt es zu Toleranz, Heißhunger und Entzugserscheinungen, sowie zu einer Reihe sozialer, emotionaler und verhaltensbezogener Schwierigkeiten, wie z.B. Gewichtsstigmatisierung und Schuld- und Schamgefühle. Bei wiederholtem Verzehr dieser Lebensmittel gewöhnen sich die Betroffenen wahrscheinlich an die hedonistischen Eigenschaften des Lebensmittels, was zu einem verminderten Genuss oder einer geringeren Vorliebe führt. Diese Veränderungen gehen auch mit einem verstärkten Verlangen nach dem Lebensmittel einher. Um diese Symptome zu lindern, versucht der Betroffene, sich selbst zu therapieren, indem er den Lebensmittelkonsum erhöht, was zu zwanghaftem Essverhalten oder Essanfällen führen kann, wodurch ein Kreislauf der Abhängigkeit entsteht. Es ist zu beachten, dass das Ausmaß, in dem jeder dieser Mechanismen zum Tragen kommt, von Person zu Person sehr unterschiedlich ist. Insbesondere kann die anfängliche Anfälligkeit für Sucht mit individuellen Unterschieden in der Belohnungsempfindlichkeit, der Impulsivität und der Hemmungskontrolle zusammenhängen. (Bildquelle: Adams et al., 2019)

Der vorgeschlagene Kreislauf der “Esssucht”. Die initiale Anfälligkeit für den übermäßigen Konsum von stark verarbeiteten (schmackhaften) Lebensmitteln ist durch eine erhöhte Impulsivität und Belohnungssensibilität, sowie eine verringerte Fähigkeit zur Hemmungskontrolle gekennzeichnet. Infolge des übermäßigen Konsums kommt es zu Toleranz, Heißhunger und Entzugserscheinungen, sowie zu einer Reihe sozialer, emotionaler und verhaltensbezogener Schwierigkeiten, wie z.B. Gewichtsstigmatisierung und Schuld- und Schamgefühle. Bei wiederholtem Verzehr dieser Lebensmittel gewöhnen sich die Betroffenen wahrscheinlich an die hedonistischen Eigenschaften des Lebensmittels, was zu einem verminderten Genuss oder einer geringeren Vorliebe führt. Diese Veränderungen gehen auch mit einem verstärkten Verlangen nach dem Lebensmittel einher. Um diese Symptome zu lindern, versucht der Betroffene, sich selbst zu therapieren, indem er den Lebensmittelkonsum erhöht, was zu zwanghaftem Essverhalten oder Essanfällen führen kann, wodurch ein Kreislauf der Abhängigkeit entsteht. Es ist zu beachten, dass das Ausmaß, in dem jeder dieser Mechanismen zum Tragen kommt, von Person zu Person sehr unterschiedlich ist. Insbesondere kann die anfängliche Anfälligkeit für Sucht mit individuellen Unterschieden in der Belohnungsempfindlichkeit, der Impulsivität und der Hemmungskontrolle zusammenhängen. (Bildquelle: Adams et al., 2019)

Entsprechende Kontroversen existieren bezüglich der Operationalisierung des Suchtkonzepts sowie der Rolle, die das Essen bei der Auslösung eines Suchtverhalten spielt und wie es dabei helfen könnte Betroffene zu unterstützen und eine positive Veränderung des Status Quo herbeizuführen.

Aus diesem Grund werden wir uns im weiteren Verlauf dieses Beitrags in die geführte Diskussion zum Konzept der „Esssucht“ einklinken und schauen, in welchen Punkten ein Konsens herrscht und welche Kontroversen bestehen. Letztendlich geht es natürlich auch darum zu klären, inwiefern uns das Konzept der „Esssucht“ dabei helfen kann die Epidemie des Übergewichts einzudämmen und zu behandeln.

Hinweis: Dieser Artikel erschien als Editorial-Beitrag in der August 2021 Ausgabe des MHRx Magazins. Registriere dich kostenlos oder logge dich mit deinem bestehenden Account ein, um alle bisherigen Editorial-Beiträge zu lesen.

Worum genau geht es?

Während wir uns im Rahmen des Editorials normalerweise auf neue und aufregende Untersuchungen aus der Welt der Gesundheit, Ernährung und des Trainings stürzen, um an wichtige Erkenntnisse zu gelangen, geht es diesmal um ein Paper, in dem zwei Wissenschaftler darüber debattieren, inwiefern das Konzept der „Esssucht“ uns dabei helfen kann, die Entstehung von Übergewicht und Fettleibigkeit besser zu verstehen (1)(2).

Geführt wird diese Diskussion von den beiden Professoren Ashley Gearhardt und Johannes Hebebrand. Und während Gearhardt die Ansicht vertritt, dass manche Lebensmittel in der Tat suchterzeugend wirken können und eine Anerkennung dieses Umstands bei der klinischen Behandlung von Übergewicht sowie bei umweltpolitischen und öffentlichen Interventionen hilfreich sein kann, sieht Helebrand darin eher ein potenzielles Risiko für eine Ablenkung von der Notwendigkeit, sich auf Interventionen zu konzentrieren, die darauf abzielen, Übergewicht und Fettleibigkeit zu bekämpfen.

Dabei stellt das Problem der Fettleibigkeit bereits für sich eine große Kontroverse dar – etwa wenn es darum geht, sie als Erkrankung zu deklarieren oder bei der Frage, ob man auch mit Übergewicht gesund sein (und bleiben) kann.

Der Konsens

Zunächst einmal sind sich sowohl Gearhardt als auch Helebrand darin einig, dass die Entstehung von Übergewicht und Fettleibigkeit ein vielschichtiges, multi-faktorielles Problem ist, für das es keine einzige Ursache oder Lösung gibt.

Sie stimmen beide darin überein, dass es so etwas wie einen „addictive-like eating“-Phänotyp gibt, der durch folgende Aspekte charakterisiert wird:

  • Eine verminderte Kontrolle bezüglich des Konsums
  • Ein starkes Verlangen nach Essen („Heißhunger“)
  • Ein übermäßiger Verzehr [an Kalorien], trotz der Kenntnis darüber, dass dies mit negativen Konsequenzen verbunden ist.
  • Wiederholt gescheiterte Versuche, dass Essverhalten zu kontrollieren bzw. einzuschränken.

Der beschriebene Phänotyp scheint bei Personen, die unter Fettleibigkeit leiden, häufiger aufzutreten, ist jedoch nicht gleichbedeutend mit Fettleibigkeit

Mechanismen, die bei substanzbezogenen und süchtig machenden Erkrankungen (z.B. Belohnungsstörungen, Beeinträchtigung der exekutiven Kontrolle) auftreten, tragen eindeutig zu einer Überernährung und Fettleibigkeit bei.

Beide Autoren bekräftigen, dass zusätzliche Forschung notwendig ist, um die Grenzen des süchtig machenden Essverhaltens zu bestehenden Erkrankungen (d.h. Binge-Eating-Störung, atypische Depression) besser zu verstehen. Sie stimmten ebenfalls darin überein, dass die „Yale Food Addiction“-Skala ein nützliches Instrument zur Operationalisierung von süchtig machendem Essen ist.

Industriepraktiken, die eine Lebensmittelumwelt fördern, die von ungesunden, energiereichen und stark verarbeiteten Lebensmitteln gekennzeichnet ist, sind sehr wahrscheinlich die größten externen Faktoren, die zu einer suchterzeugenden Überernährung und Fettleibigkeit beitragen. Andere Industriezweige, wie z.B. die Unterhaltungsindustrie, könnte allerdings ebenfalls eine wichtige Rolle spielen, da diese das Bewegungsverhalten beeinflusst (z.B. wenn man viel und oft vor dem Bildschirm hängt und sich in der Folge wenig bewegt).

Interventionen zur Bekämpfung von Fettleibigkeit, zielen in der Regel auf die Energiezufuhr und/oder den Energieverbrauch ab. Gearhardt und Helebrand sind sich jedoch einig, dass umweltorientierte Maßnahmen, die darauf abzielen, die Qualität der Ernährungsumwelt zu verbessern, entscheidend sein werden. Dazu gehört beispielsweise auch, dass entsprechende Werbung für anfällige Personengruppen (etwa Kinder) begrenzt bzw. gestoppt wird.

Esssucht als ursächlicher oder mitwirkender Faktor für Übergewicht und Fettleibigkeit. Eine personalisierte und optimierte Psychoverhaltenstherapie bei Patienten mit Esssucht kann dazu beitragen, Übergewicht und Adipositas zu verhindern, die damit verbundenen Begleiterkrankungen und Kosten zu verringern und die Ergebnisse der Adipositaschirurgie zu verbessern. Gestrichelte Linien zeigen Zusammenhänge an, für die keine oder nur unzureichende Daten vorliegen. (Bildquelle: Constant et al., 2020)

Esssucht als ursächlicher oder mitwirkender Faktor für Übergewicht und Fettleibigkeit. Eine personalisierte und optimierte Psychoverhaltenstherapie bei Patienten mit Esssucht kann dazu beitragen, Übergewicht und Adipositas zu verhindern, die damit verbundenen Begleiterkrankungen und Kosten zu verringern und die Ergebnisse der Adipositaschirurgie zu verbessern. Gestrichelte Linien zeigen Zusammenhänge an, für die keine oder nur unzureichende Daten vorliegen. (Bildquelle: Constant et al., 2020)

Die Kontroversen

Stark verarbeitete Lebensmittel & Suchtpotenzial

Im Gegensatz zu unverarbeiteten oder kaum verarbeiteten Produkten, beeinflussen stark verarbeitete Lebensmittel das neuronale Belohnungssystem, wodurch ihnen ein suchterzeugendes Potenzial innewohnt, so Gearhardt. Dies sei das Resultat aus einer Kombination aus schnell-verdaulichen Kohlenhydraten (hoher glykämischer Index) und Fett, was durch weitere Zusatzstoffe (z.B. Salz) verstärkt wird.

Demgegenüber führt Helebrand an, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt einen Mangel an Evidenz dafür gibt, dass bestimmte Lebensmittelzutaten zu einem süchtigmachenden Ernährungsverhalten beitragen. Stark verarbeitete Lebensmittel, so beschreibt er, seien nicht vergleichbar mit legalen bzw. illegalen Drogen (z.B. was die zugrundeliegenden Mechanismen und neurophysiologischen Effekte betrifft). So würden stark verarbeitete Lebensmittel tagtäglich von einer breiten Bevölkerung konsumiert werden, ohne dass diese eine drogenähnliche Wirkung entfalten.

DSM-5 Rahmenanwendung in der Kategorie „Substanz-bezogene und süchtigmachende Erkrankungen“

Gearhardt befürwortet die Anwendung eines substanzorientierten Rahmens auf das diagnostische und konzeptionelle Verständnis für süchtmachendes Essen, wonach stark verarbeitete Lebensmittel als suchterzeugende Substanzen eingestuft werden sollten.

Helebrand sieht dies wiederum anders. Für ihn spielen verhaltensbezogene Faktoren eine weitaus wichtigere Rolle, weshalb er eine mögliche Klassifikation innerhalb der Suchterkrankungen (z.B. Esssucht, unkontrolliertes Essen oder Überernährungsstörungen) vorschlägt.

Kennzeichnung ungesunder (suchterzeugender) Lebensmittel, Verantwortung der Lebensmittelindustrie & öffentliche, umweltorientierteInitiativen

Indem man es versäumt, bestimmte Lebensmittel (oder Lebensmittelzutaten) als suchterzeugend einzustufen, werden gleichzeitig Möglichkeiten für Sicherheitsvorkehrungen – etwa staatliche Vorschriften) – auf Industriepraktiken und die Fähigkeit, die Öffentlichkeit zu informieren, limitiert, was gemäß Gearhardt auch auf süchtigmachende Lebensmittel zutrifft.

Helebrand sieht dagegen ein großes Verwirrungspotenzial bei der Kennzeichnung von stark verarbeiteten Lebensmitteln (z.B. durch das Versehen mit einem bestimmten Symbol, welches ein suchterzeugendes Potenzial ausweisen soll). Zudem würde man damit dafür sorgen, dass sich die Lebensmittelindustrie aus der Verantwortung stiehlt. Gleichzeitig würde eine Ablenkung

Fazit

Wen würdest du nun zum Sieger dieser Debatte deklarieren? Beide Parteien liefern interessante Aspekte, die zum Nachdenken anregen, allerdings weisen die Aussagen von Gearhardt einige Makel auf, die ihre Position letztendlich schmälern.

Gearhardt definiert stark verarbeitete Lebensmittel als eine Kombination, die einfache (raffinierte) Kohlenhydrate mit Fett kombinieren (z.B. Süßgkeiten, Kuchen etc.). Derartige Produkte tragen zwar tatsächlich dazu bei, dass man mehr isst, als ursprünglich beabsichtigt (man spricht in diesem Zusammenhang von Produkten mit einer hohen „hyperpalatability“ – was man im Deutschen am ehesten mit „schmackhaft“ oder „bekömmlich“ übersetzen würde, allerdings denke ich, dass es sich hierbei um so ein typisches Wort handelt, was man nicht wirklich ins Deutsche übersetzen kann, da die meisten von uns ein „schmackhaftes“ bzw. „bekömmliches“ Lebensmittel eher positiv konnotieren) (4)(5), allerdings scheint der glykämische Index in diesem Zusammenhang weitaus weniger relevant zu sein: Haushaltszucker ist z.B. eine wesentliches Süßungsmittel in der „Kuchen & Kekse“-Kategorie, weist jedoch nur einen mittleren glykämischen Index auf (6).

Esssucht als ursächlicher oder mitwirkender Faktor für Übergewicht und Fettleibigkeit. Eine personalisierte und optimierte Psychoverhaltenstherapie bei Patienten mit Esssucht kann dazu beitragen, Übergewicht und Adipositas zu verhindern, die damit verbundenen Begleiterkrankungen und Kosten zu verringern und die Ergebnisse der Adipositaschirurgie zu verbessern. Gestrichelte Linien zeigen Zusammenhänge an, für die keine oder nur unzureichende Daten vorliegen. (Bildquelle: Constant et al., 2020)

Schema zur Unterscheidung von Geschmack (Taste), Aroma (Flavor) und Schmackhaftigkeit (Palatability). (Bildquelle: do Nascimento et al., 2018)

Zudem beschränkt sich die „Hyperpalatabilität“ von Lebensmitteln nicht nur auf Zucker-Fett-Kombis, sondern umfasst auch Kohlenhydrat-Salz- und Fett-Salz-Kombinationen (klassische Beispiele hierfür wären gesalzene Erdnüsse oder Kartoffelchips) (7). Die von Helebrand angeführte Studie von Markus et al. (2017) zeigt außerdem, dass fettreiche, herzhafte Produkte mit 30% zu den Produkten mit dem höchsten „Suchtpotenzial“ gehören, gefolgt von fettreichen, süßen Lebensmitteln (25%) (8). Lediglich 5% der Studienteilnehmer gaben an, dass sie rein zuckerhaltige Produkte als „süchtig machend“ wahrnehmen.

Markus et al. (2018) fassen ihr Studienergebnis wie folgt zusammen:

The current findings indicate that sugary foods contribute minimally to ‘food dependence’ and increased risk of weight gain. Instead, they are consistent with the current scientific notion that food energy density, and the unique individual experience of eating, plays an important role in determining the reward value of food and promoting excessive energy intake.

Markus et al, 2018

Und es war auch James Krieger, der in seinem Beitrag zum Thema „Zuckersucht“ einst diesen ikonischen Satz von sich gab:

Der Punkt hier ist, dass Zucker an sich nicht süchtig macht – zumindest nicht auf eine Weise, wies es süchtig machende Drogen tun. Würde Zucker nämlich abhängig machen, dann würdest du ihn dir kiloweise mit dem Löffel hineinschaufeln.

Krieger, 201

Gearhardt stellt zwar einen parallelen Bezug zwischen den neuronalen Belohnungspfaden von stark verarbeiteten Nahrungsmitteln und Drogen her, allerdings wird dieses Argument von Alan Aragon wie folgt entkräftet:

[…] ihre Position scheitert aus mehreren Gründen: Wesentliche Unterschiede im Ausmaß der Wirkung, in der Art der Wirkung und in den unterschiedlichen Entzugsprofilen – ganz zu schweigen von der überwiegenden Tierforschung und dem Mangel an menschlichen Belegen für ihre Behauptungen.

Aragon, 2021

Ich hoffe, du konntest aus dieser Analyse der Debatte zum Konzept der „Esssucht“ ein paar wertvolle und hilfreiche Hinweise für dich entnehmen. Wie die Autoren des Papers selbst geschrieben haben (und was ich auch immer betone) ist, dass Übergewicht bzw. Fettleibigkeit ein komplexes Problem ist. Die Ursache dafür mag ein chronischer Kalorienüberschuss sein, allerdings spielen zahlreiche Faktoren eine tragende Rolle, die zur Entstehung dieser Überversorgung mit Energie und einer Vergrößerung der Fettdepots beitragen.

Letztendlich wissen wir alle, dass wir mehr Energie verbrauchen müssen, als wir über Nahrung und Getränke zuführen, um erfolgreich abzunehmen und unsere Körperkomposition zu verbessern, allerdings macht es unsere gegenwärtige Umwelt und die Praktiken der Lebensmittelindustrie, die darauf abzielt, die Hyperpalatabilität der Produkte zu steigern, nicht gerade einfach, diese Vorsätze auch tatsächlich einzuhalten. Der Geist mag willig sein, doch das Fleisch ist bekanntlich schwach. Insofern könnte es tatsächlich sein, dass eine Regulation von außen erforderlich sein wird, damit wir uns nicht in ein frühes Grab (fr-)essen.

Inwiefern man dem Kind nun einen Namen gibt („Esssucht“) überlasse ich deiner Fantasie.

Quellen, Referenzen & Weiterführende Literatur

Primärliteratur

(1) Gearhardt, AN. /  Hebebrand,  J.  (2021): The concept of “food addiction” helps inform the understanding of overeating and obesity: Debate Consensus. In Am J Clin Nutr. URL:  https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33448277/.

(2) Aragon, AA. (2021): Alan Aragon’s Research Review. February 2021 Issue. Erhältlich auf: https://alanaragon.com/.

Sekundärliteratur

(3) Stinson,  EJ., et al. (2018): High fat and sugar consumption during ad libitum intake predicts weight gain. In: Obesity (Silver Spring). URL: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/29504262/.

(4) Drewnowski, A. / Almiron-Roig, E. (2010): Human Perceptions and Preferences for Fat-Rich Foods.  In: Montmayeur, JP. / le  Coutre,  J. (Edit.): Fat Detection: Taste, Texture, and  Post  Ingestive Effects. Boca  Raton (FL):  CRC Press/Taylor & Francis; 2010. Chapter 11. URL: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK53528/.

(5) Hebebrand, J. / Gearhardt, AN. (2021): The concept of “food addiction” helps inform the understanding of overeating and obesity: NO. In: Am J Clin Nutr. URL: https://academic.oup.com/ajcn/article/113/2/268/6059773.

(6) Foster-Powell,  K. / Miller, JB. (1995): International  tables  of glycemic index. In: Am J Clin Nutr. URL: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/7572722/.

(7) Fazzino, TL. / Rohde, K. / Sullivan, DK. (2019): Hyper-Palatable Foods:  Development  of  a  Quantitative Definition and Application to the US Food System Database. In: Obesity (Silver Spring). URL:  https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/31689013/.

(8) Markus, CR., et al. (2017): Eating dependence and weight gain; no human evidence for a ‘sugar-addiction’ model of overweight. In: Appetite. URL: https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0195666317304099.

(9) Krieger, J. (2017): Zuckersucht? Nein, du bist nicht süchtig nach Zucker. In: AesirSports.de. URL: https://aesirsports.de/zuckersucht-nein-du-bist-nicht-suechtig-nach-zucker/.

(10) Hall, S. (2018): Esssucht: Kann man süchtig nach Essen sein? In: AesirSports.de. URL: https://aesirsports.de/esssucht/.

(11) Kirchhoff, C. (2018): Intuitive Ernährung: Kannst du dich auf die Signale deines Körpers verlassen? In: Metal Health Rx: 09/2018. URL: https://patreon.aesirsports.de/intuitive-ernaehrung-signale-koerper/.

(12) Minichowski, DN. (2020): Die Protein Leverage Hypothese: Essen wir solange, bis der Proteinbedarf gedeckt ist? In: Metal Health Rx: 01/2020. URL: https://patreon.aesirsports.de/die-protein-leverage-hypothese-essen-wir-solange-bis-der-proteinbedarf-gedeckt-ist/.

(13) Minichowski, DN. (2019): Epidemie des Übergewichts: Wieso wir immer dicker werden. In: Metal Health Rx: 12/2019. URL: https://patreon.aesirsports.de/epidemie-des-uebergewichts-wieso-wir-immer-dicker-werden/.

(14) Minichowski, DN. (2013): Energiestories Part I – Hunger & Sättigung: Was, wann und wieso essen wir? In: AesirSports.de. URL: https://aesirsports.de/energiestories-hunger-saettigung/.

(15) Minichowski, DN. (2019): Energieverbrauch im Alltag (NEAT): Verbrennen schlanke Individuen mehr Kalorien, als Übergewichtige? In: Metal Health Rx: 08/2019. URL: https://patreon.aesirsports.de/energieverbrauch-im-alltag-neat-verbrennen-schlanke-individuen-mehr-kalorien-als-uebergewichtige/.

(16) Fletcher, PC. / Kenny, PJ. (2018): Food addiction: a valid concept? In: Neuropsychopharmacol. URL: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/labs/pmc/articles/PMC6224546/.

(17) Kessler, D. (2011): Das Ende des großen Fressens: · Wie die Nahrungsmittelindustrie Sie zu übermäßigem Essen verleitet – · Was Sie dagegen tun können. Mosaik Verlag. Erhältlich auf Amazon.de.

(18) Guyenet, SJ. (2018): The Hungry Brain: Outsmarting the Instincts That Make Us Overeat. Flatiron Books. Erhältlich auf Amazon.de.

(19) Mayo Clinic: Nicotine dependence. URL: https://www.mayoclinic.org/diseases-conditions/nicotine-dependence/symptoms-causes/syc-20351584.

(20) Mayo Clinic: Alcohol use disorder. URL: https://www.mayoclinic.org/diseases-conditions/alcohol-use-disorder/symptoms-causes/syc-20369243.

(21) Gearhardt, AN. /  Hebebrand,  J.  (2021): The  concept  of  “food addiction” helps inform the understanding of overeating and obesity: YES.  In: Am  J  Clin  Nutr.  URL: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33448279/.

(22) Adams, RC., et al. (2019): Food Addiction: Implications for the Diagnosis and Treatment of Overeating. In: Nutrients. URL: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/labs/pmc/articles/PMC6770567/.

(23) Constant, A., et al. (2020): Meeting of Minds around Food Addiction: Insights from Addiction Medicine, Nutrition, Psychology, and Neurosciences. In: Nutrients. URL: https://www.mdpi.com/2072-6643/12/11/3564/htm.

(24) do Nascimento, E., et al. (2018): Palatability: from formation to possible influence on weight mass. In: Adv Obes Weight Management Control. URL: https://medcraveonline.com/AOWMC/palatability-from-formation-to-possible-influence-on-weight-mass.html.

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